Mittwoch, 14. April 2010

34. Iteration



In einer Unterhaltung zwischen dem deutschen Dramatiker Heiner Müller und dem Medienphilosophen Alexander Kluge, das von der Cronell Universität und der Uni Bremen im Rahmen einer Konferenz im Jahre 1993, also kurz nach der Wende aufgezeichnet wurde, wird im Zusammenhang mit Tacitus und Seneca ein Satz ausgesprochen, den ich eher Alexander Kluges Denken zuordnen möchte (ich glaube, von ihm stammt auch dieser Satz): "Die Substanz verdrängt die Grammatik." Diesen Satz finde ich für die Bedingungen unserer heutigen Zeit und vor dem Hintergrund von Ausführungen von Denkern, mit deren Thesen ich mich damals im Rahmen meines Studiums befasst habe (also knapp vor 10-15 Jahren) sehr interessant. Ich möchte dies hier kurz ausführen, auch wenn es nun unwillkürlich etwas kryptisch werden wird:

Substanz verdrängt die Grammatik so nachhaltig, dass man dies als Alltagsnormalität übergeht. Die Intuitivität des Technischen wiedersetzt sich der Beschreibung in dem Maße, in dem die User ihre Manuals nicht mehr lesen, die ihrer Vorgängermodelle auch nicht gelesen haben und die ihrer zukünftigen Geräte auch nur in Ausnahmefällen lesen werden

Medienkompetenz ist keine Lesekompetenz von Bedienungsanleitungen sondern eine neue Art von Intuitivität, die sich formal erden lässt. Und nicht jeder dieser Erdungsversuche kann bis zu Claude Shannon zurückreichen, bzw. auf Maschinencodeebene nachvollziehen nach welchen algebraren Schaltungslogiken, die einzelnen Speicherregister ihrer Aparate beschrieben werden. Darin offenbart sich der Widerspruch zur formaljuristischen Prädominanz der vermeintlich mit Gesetzestexten allein geregelten öffentlichen Ordnung in all ihrer Abstraktheit, zu denen inzwischen längst schon die Metatexte des Technischen hinzugesellt haben. Die Frage ist jedoch, wie lange das Juristische noch das Technische regulieren kann bzw, ab wann das Juristische seine formaljuristisch anerkannten technischen Augmentierungen erfahren wird. Welche Rolle rückblickend Heidegger und Wiener in dem Zusammenhang eingenommen haben werden, vermag zum heutigen Zeitpunkt noch keiner zu sagen. Denn die kleinen Monströsitäten des Alltags und die allgemeinen offenkundigen Rückständigkeiten halten uns bis dato zu sehr in Schach. Sie stellen insgesamt als system imanente Widerstände einer derartigen Rationalisierungsüberlegung Iterationen einer allgemeinen und gegenseitigen Approximation dar. Das Formaltechnische ist jedoch immer noch einen Deut abstrakter und akurater als das Formaljuristische. Beide Systeme haben ihre Begriffe und ihre Variabelen definiert. Komandos sind in beiden Systemen ebenso formalisiert. Und dennoch bleibt das Recht dem Technischen überlegen: Denn das Recht muss interpretierbar bleiben. Die Verwaltungsakte einer Verteidigung jedoch könnten schon heute Anwälten und auch Laien wesentlich effektiver zugänglich gemacht werden und auch einer breiteren Öffentlichkeit. Doch wird es dadurch sicher nicht besonders gerechter zugehen. Zusätzlich stellt sich die Frage, in wie fern zukünftig technische Definitionen des Formaljuristischen auch vor Hackerangriffen sicher sein werden und ob dies eher zu einer nachhaltigeren Politisierung der Bevölkerung und einer ansteigenden Demokratisierung Europas großartig auf die Sprünge helfen würde. Eine umgekehrte Juristifizierung des Technischen (was zu einem zunehmenden Bedeutung von Anwälten im gegensatz zu Programmierern und Ingenieuren führen würde) ist eher unwahrscheinlich, da die Sprache der Mathematik erstens universeller ist und dies zweitens auf lange Sicht den Fortschritt behindern würde, der in kapitalistischen Gesellschaften genauso notwendig ist wie in anderen Gesellschaftsformen. Spracherkennungssoftwaretools und Gridtechnologien könnten schon recht bald flüssig antwortende Konversationsanwendungen möglich machen. Mobile Netze würden eine ubiquitäre Verbreitung und Erreichbarkeit garantieren. Weizenbaums Eliza antwortete schon vor Jahrzehnten täuschend echt. Vielleicht liegt dies auch am hohen grad der Automatisierung in vielen zwischenmenschlichen Bereichen des heutigen Lebens. In wie fern sich dieser Prozess regulieren lässt, wird sich sicher innerhalb der nächsten Jahre abzeichnen.
Bis dahin muss jeder für sich entscheiden, ob das Bedienen eines iPads oder Videogames die subversiven Entwicklungen eher beschleunigt oder verlangsamt. Schon Hans Moravec fragte sich vor einigen Jahren, wie lange es dauern werde, bis man Maschinen ein Wesen und einen Geist zuschreiben würde. Vielleicht gilt es bis dahin die letzten Bastionen des Menschlichen zu verteidigen. (Aber ob man deswegen gleich zum Emo werden muss, steht auf einem anderen Blatt geschrieben...) ^^

Das Erfinden neuer Zeichen und Ray Kurzweil nannte es Makrozeichen zur Beschreibung und Steuerung von Komplexitätsvorgängen reicht jedoch in einen anderen Bereich zwischenmenschlicher Intelligenz. Dazu gehören unter anderem auch die Emoticons, deren Effekt die Poeten von früher durch das Aneinanderreihen von Worten zwischen den Zeilen evozierten (und die in der Programmiersprache C ohnehin Standard geworden sind ) ;
Sie sind Ausdruck einer neuen Unmittelbarkeit und sind die Erfindung des Real-Time Zeitalters, das seinerzeit bereits von Computerpionieren wie Douglas Engelbart antizipiert wurden. Vorspiel ist out. Alles muss ad hoc geschehen. Zwischenmenschlichkeit soll reduziert werden. Alles muss funktionieren. Für längere Gespräche bleibt aus zweckrationalen Gründen und dem allgemeinen Stress in der Gesellschaft keine Zeit. Zeitknappheit und Zeitdruck bestimmen unser Leben. Mikro- und Nanosekunden entscheiden über Leben und Tod.

Der Substanz des Inhalts tritt die Substanz der substanzlosen Zeit hinzu, deren Wert aber innerhalb der letzten Jahrzehnte enorm gestiegen zu sein scheint. Die Zeitintervalle, innerhalb derer immer mehr Blackboxen immer mehr parallele Aktionen in Vernetzung tätigen werden immer kürzer. Gerichtsverfahren, die Fälle und Zusammenhänge von vor Jahren behandeln, lassen sich heute schon immer schwieriger effektiv handhaben.
Denn beteiligten Parteien können heute in der Regel auf eine Menge mehr Daten und Dokumente zugreifen, als dies noch vor Jahren der Fall gewesen ist. Gleichzeitig erleben Menschen in kürzeren Abständen innerhalb ihrer erlebnisorientierten Freitzeitgestaltung in der Regel heutzutage mehr als dies noch vor Jahren der Fall war. D.h. die Fähigkeit zur Erinnerung sinkt dadurch parallel ab. Und die Vielzahl der zu verarbeitenden Sinneseindrücke steigt im gleichen Maße an. Und diese Tendenz wird in Zukunft kontinuierlich dazuführen, dass man sich an immer mehr erinnern müsste, es aufgrund der Datenlage auch kann, die Anwälte und die Richter aber immer mehr Zeit benötigen, Entscheidungen zu fällen, die den vielen Einzelheiten der Verfahren wahrheitsgemäß entsprechen.

Die Beweiskraft von digital erzeugten Dokumenten und Daten erhält dabei auch ein neues Gewicht. Vielleicht bringt aber auch jede Technologie-Generation ihre ihr eigene Methoden mit hervor, diese im Sinne einer wie auch immer gearteten manipulativen Absicht zum eigenen Vorteil zu nutzen. Das würde aber auch bedeuten, dass ein höheres Maß Intentionierbarkeit von Beweismitteln und Daten auch ein höheres Maß an Kontrolle und Regulierung mit sich zöge. (Die Adminstration solcher Maßnahmen können dabei ins Orwellsche hineinreichen.)

Dennoch scheint sich das substanziell Subtanzhafte zunehmend der es ordnenden Grammatik oder Ordnungslogik zu entziehen und den Rahmen seinen Rationalisierungsbestrebungen zu sprengen. DNS Tests waren damals beispielsweise noch nicht an der Tagesordnung. Handies ließen sich nicht orten und auch nicht jeder hatte Community Portal Accounts und Emails und generierte Traffic, etc. Das Substanzielle also verändert sich im Bereich des Digitalen qulitativ. Der qualitative Wandel, dem es sich unterwirft, verändert dabei sein Wesen. Und diese neue Wesenshaftigkeit lässt sich in einigen Fällen nur noch unzureichend juristisch beschreiben. Zusätzlich dehnen sich die Kontexte innerhalb einer globalisierten Welt zunehmend aus. Nationalstaatliches Recht bildet zusammen mit förderalen Gesetzeskanen und internationalen Staatenverbundsrechtskonstrukten wie dem EU Recht immer neue Gesetzeslücken aus. Und diese in den Griff zu bekommen, scheint heute genauso schwierig zu sein wie damals. Vielleicht ist es heute sogar etwas schwieriger geworden als damals, als noch nicht alles real-time und vernetzt war. Und dennoch bahnen sich am technischen Horizont neue Szenarien von Komplexitätsmanagement an. Doch sind sie erstrebenswert? Bzw. lassen sie sich im Hinblick auf ein Gesamtsystem überhaupt vermeiden? Welche Auswirkungen werden sie haben? Und wie konnten sie überhaupt emergieren? Und wie lange werden sie sich halten? Und wie wird ihre next gen aussehen?

Obwohl Entertainmentkultur auf vielen Ebenen mit der Bildungsgesellschaft kollidiert und die Kolateralschäden der Volksverdummung die Zahl der Intellektuellen auf wundersame Weise begrenzen hilft, gibt es immer wieder Menschen, die auch heute noch nachdenken wollen. Jedoch kann nurn darüber spekuliert werden, in welcher Form sich dieses Nachdenken dann eines Tages manifestieren wird. Zur Stunde ist die Vermutung der Emergenz einer Substanzhaftigkeit beobachtbar, was die Entwicklung einer neuen human-technischen Grammatik erstrebenswert erscheinen lässt. Ob eine solche Hochsprache sich dann mit den Ideen von Lev Manovich vergleichen lassen wird, wird die Zukunft zeigen. Und am Ende wird man sich dann doch wieder entschleunigen müssen. Nach all diesen Phasen der Dynamisierung.

Lustigerweise hat das Sitzen vor dem Computer etwas sehr Meditatives an sich. Dieses Sitzen markiert einen qualitativer Unterschied, der durch die zunehmende Benutzung von mobilen Endgeräten immer stärker in Frage gestellt wird. Man wird sehen, ob auch gestische Bewegungen und menschliche Sprache in Kombination mit medialen Versatztücken und Kulissen aus dem Internet dem Prozess des Inszenierens am Theaters entsprechen werden und in wie fern sich an dieser Stelle das Wissen der Dramaturgen dann mit dem Wissen der institutionalisierten Philosophen und der Ingenieure und Juristen vereinigen wird, wenn es darum geht zu erkennen, welche Rolle sie alle in Zukunft spielen werden vor dem Hintergrund eines bereits jetzt schon erkennbar werdenden generellen Umbruchs von Kommmunikationsprozessen in einer globalisierten Welt. Vielleicht werden wir dann auch sagen: ich möchte gar nicht mehr wissen, wer ich Deiner Meinung nach bin oder was ich für Dich darstelle. Viel wichtiger für mich ist, dass ich selbst erkenne, wer oder was ich sein will und wie ich dies zum Ausdruck bringe. Am Ende ist alles eine Frage der Inszenierung. Daher können wir möglicherweise alle vom Theater lernen und es wäre am Theater, dies zu erkennen und sich unter Vorgabe dieser Verantwortung neu zu erfinden, in dem es sich auf seine Wurzeln beruft und darin die Konstanten erkennt, die Essenzen, wie in einer Meditation.

33. Iteration



Interessant Heiner Müllers Verständnis der Revolution als Prozess des Zeit Anhaltens, des Verzögerns, des Aufhaltens, des Entschleunigens, wenn die allgemeine Beschleunigung, die ewige Aneinanderreihung von Hypes und radikalen epochalen Umbrüchen einer Ideologie des ständigen Wandels entsprechen, innerhalb derer nichts konstant zu sein scheint, außer dem ewigen Wandel. Der Wandel wird als solches entpuppt als eine konservative Figur des Systemerhaltens. Durch die prinzipielle anhaltend gegebene Möglichkeit des Wandels werden Mißstände auch eher in Kauf genommen. Man betrachtet die Zustände und in dem man die Prozesse der Veränderung aufhält, leistet man aktiv Widerstand gegen ein vorherrschendes System.

Die Revolution als die Ausbremsung einer Bewegung kann im Klassenkampf aber auch als reaktionär angesehen werden und entfaltet im Zusammenhang mit dem Aufstiegswillen von Migranten innerhalb von restriktiven wertkonservativen Gesellschaft zusätzlichen sozialen Sprengstoff. Setzt man sich gegen die Globalisierung und indirekt auch gegen das vorherrschende System zur Wehr zu setzen, in dem man subversiv gegen den Aufstieg von ausländisch aussehenden Mitbürgern wirkt? Obama beantwortet diese Fragen auf eine neuen Stufe des sozialen Fortschritts und dennoch haben diese Texte Müllers dennoch etwas mit mir selbst zu tun. Ich weiss nicht, wie es Euch geht... Sie handeln im Anflug des Pathetisch-Werdens von Individuen, die sich ihrer tragischen Rolle bewusst werden und als Handelnde dem Drama nicht entrinnen können. Handeln sie denn am Ende auch von Müller selbst? Wie können wir die Aktualität seiner Texte denn heute im zunehmend internationalen Kontext neu begreifen? Sie gehen meiner Meinung nach über Shakespeare hinaus und stellen völlig neue Fragen. Fragen, die sich sozialen Wesen in Zeiten des allgemeinen Umbruchs der Werte stellen. Fragen, die sich mit dem sozialen Drama von einzelnen Individuen beschäftigen und dabei das klassische Rollenverständnis der zitierten Figuren transzendieren, es augmentieren, um seine Sedimentierungen deutlich erkennbar werden zu lassen. Im Kaffeesatz zu lesen kann heute auch heissen, nach Shakespeare auch andere Dramatiker zu entdecken. In der jüngeren deutschen Vergangenheit stellt Müller meines Erachtens eine Singularität dar.

Lustigerweise sind seine Texte auch für asiatische Leser heute von Interesse. Sie transzentendieren sich gewissermaßen selbst und sind in den Momenten, in denen sie sich dicht an den sinnlichen Gefühlen der Menschen in Grenzsituationen annähern, in den Bildern, die sie zeichnen aktueller denn je. Und dies trotz allen technischen Fortschritts, der über gewisse Probleme nicht hinweg zu täuschen vermag und gleichzeitig als Refugium und Legitimation eines Systems dient und trotz allem vielfach in seinem unreflektierten Voranpreschen meist mehr Probleme schafft als er zu lösen in der Lage ist. Vielleicht wäre eine philosophisch geleitete Forschung auf dem richtigeren Wege... Sollte man allein aufgrund dieser ungeklärten Fragestellung nicht für einen Moment verharren und innehalten?



Einige Fragen beantwortet eine Arte Dokumentation, die sich mit einem Müller Zitat betitelt "Ich will nicht wissen, wer ich bin". Und dennoch welch Genie und welch bescheidene Ignoranz...