Sonntag, 15. März 2009

20. Iteration



In Winnenden sind unschuldige Menschen gestorben. Vorwiegend Frauen. Alles Unschuldige. Und was bleibt, ist ein Empfinden der Verstörung. Fassungslos betrachtete man die Bilder auf dem Bildschirm, liest in Zeitungen und auf Websites und die Kommentare von seinen Peers in diversen Emailgruppen, in denen man Subscriber ist. Die Beiträge reichen von aggressiv verfassten Anklage-Emails zu wilden Beschuldigungen bis hin zu apologetischen Diskursen besorgter Menschen, die gerade mit Computerspielen eine Menge Hoffnungen und auch ökonomische Interessen verbinden. Jeder, der Computerspiele mag, will nicht wahr haben, dass Tim K. auf seinem Computer s.g. Gewaltspiele wie Crisis, Far Cry2 und Counter Strike installiert hatte. Ob die Tatsache, dass Tim K. diese Spiele auf seinem Rechner installiert hatte, mit seinem unempathischen brutalen Verhalten zu tun hat, können nicht einmal Experten eindeutig beurteilen, zumal man den Täter nicht mehr befragen kann. Überhaupt bleiben eine Menge offener Fragen. In welcher Beziehung standen die Opfer zum Täter? Waren sie wirklich alle unschuldig? Warum handelt es sich bei den meisten Opfern um Frauen? Wen wollte der Täter treffen? Vielleicht diejenigen, die übrig blieben? Hatten die Opfer irgendwelche Gemeinsamkeiten? Waren sie besonders hübsch oder hässlich oder sonst wie auffällig? Haben einige der Opfer den Täter im Vorfeld gemobbt? Und wenn ja, wie soll man diese Zusammenhänge, jetzt, wo die internationalen Medien da sind, je rekonstruieren können? Fühlte sich der Täter vielleicht selbst als Opfer? Galt es aus einer Opferrolle auszubrechen? Vielleicht so wie sich einige Berliner Jugendliche im s.g. Problembezirken selbst gegenseitig als "Opfer" bezeichnen, und dieses Wort "Opfer" als Schimpfwort begreifen? Soll man sich als Gemobbter oder Opfer einer sozialen Entwicklung schweigend mit seiner Opferrolle begnügen? Fühlte sich der Täter vielleicht in irgendeiner Form in die Enge gedrängt? Tragen die Opfer eine gewisse Mitverantwortung in dem Sinne, als dass sie dem Täter nicht helfen konnten oder helfen wollten? Haben sich einige der Opfer vielleicht dem Täter gegenüber, der ein Außenseiter gewesen ist, unkameratschaftlich oder vielleicht sogar unfair verhalten?
Hätte man ihm denn nicht wenigstens das Gefühl geben können, irgendwie dazu zu gehören? Vielleicht hätten ja auch nur ein paar nette oder aufmunternde Worte genügt, um solch einen Amok Lauf zu verhindern. Gehen vielleicht die Kampagnen zur Integration von gesellschaftlichen Randgruppen nicht weit genug? Sind s.g. Loser auch in ihrem Negativ Potential ernst zu nehmen? Hat nicht Tim K. genau dies demonstriert? Ist sein Tod und der Tod seiner Opfer nicht ein tragischer Beweis dafür, dass sich diese Gesellschaft stärker sozialer entwickeln muss. Was können wir in diesem Zusammenhang vielleicht auch vom verflossenen Sozialismus und seinen Formen, das Soziale in den Mittelpunkt zu stellen, lernen? Welche Lehren können wir aus solchen Ereignissen wie denen in Winnenden ziehen? Reicht ein Verbot? Ist das nicht etwas zu bequem? Hätte Tim K. diese Tat begangen, wenn er Freunde und vor allem auch eine Freundin gehabt hätte? Wenn er in seinem Leben eine Perspektive gesehen hätte? Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, irgendeine Hoffnung zu hegen, dass sich sein Leben in irgendeiner Form hätte positiv verändern können? Welche Schuld trifft in dem Zusammenhang Tim K.s soziales Umfeld? Lebte Tim in einer Welt ohne Liebe? Wurde diese Welt in der Musik, die er hörte, in den Filmen, die er sah, in den Spielen, die er spielte, in den Zeitschriften, die er las, wirklich so ausweglos geschildert, dass er sich nicht anders zu helfen können glaubte? Haben seine Eltern ihn gezwungen, spießige Klamotten zu tragen?

Vielleicht hätte ich ihn erreichen können. Oder auch Du oder Sie. Durch Medien oder Berichte oder sonst wie in Blogs. Vielleicht ist es unser aller Schuld. Die Schuld einer Gesellschaft, die es zulässt, dass Menschen völlig ungeliebt und vergessen leben. Menschen ohne Liebe und Menschen ohne Hoffnung. Die dann in ihrer Verzweifelung zu solchen Bluttaten in der Lage sind.

Eine Erkenntnis bleibt. Ein Nerd, ein Außenseiter, nahm Rache. Seine ohnmächtige Rache an seinem sozialen Umfeld. Denn, wenn keiner Schuld ist, kann man es am Ende auch selbst nicht mehr sein. Und dennoch gibt es Opfer zu beklagen. Und ein Opfer, das sich zur Wehr setzte und Unschuldige mit sich nahm. Diese Unschuldigen wohlmöglich bewusst tötete und im weitesten Sinne unschuldig bleib. Bzw. kann der Staat durch den Selbstmord des Täters diesen Täter nicht mehr strafen und sucht nach einem Surogat. Ein solches Surrogat könnte das Verbot bzw. die Verbannung von s.g. Gewaltspielen sein. Ob dies dann auch die Verbot von Gewaltfilmen, Gewaltmusik, Gewaltmedien und Gewaltzeitungsartikeln nach sich ziehen wird, kann keiner mit Gewissheit sagen. Wird damit unser Grundgesetz in Frage gestellt? Bedürfen wir hierzulande wieder der bürokratischen Bevormundung? Eine Realität in Kriegszeiten (War against Terror) jedoch immer durch die rosarote Brille wahrzunehmen, bzw. per Gesetz aufoktruiert, wahrnehmen zu müssen, kann meines Erachtens nach keine valide Lösung der im Fall von Tim K. vorgestellten Problemkanen sein.

Dass Prof. Dr. Pfeiffer sich vielleicht im Bezug auf seine Migratenthese im Zusammenhang von Gewalt und Spielen irrt, ist mit Tim K.´s Opfer klar belegt. Ob die subtile Kriegspropaganda amerikanischer Entertainment Angebote auf unserem Europäischen Markt einzuschränken ist, vermag sicher nur das Verfassungegericht, wenn nicht der Europäische Gerichtshof, zu entscheiden.

Dass man es sich in den Medien und auch in der Politik immer am Liebsten einfach macht, ist keine Neuigkeit. Neu ist nur, wenn in einer modernen Gesellschaft mit den basisdemokratischen Möglichkeiten einer Netizen Kultur in ihren Bloggs keine ähnlichen Einschätzungen zu finden wären, wie in diesen hier vorgestellten.

Ich denke, die Konflikte, die zur Tat Tim K.s geführt haben, vielfältig sind und von der gegenwärtig in einer Region in Deutschland implementierten sozialen Logik verweisen, die Tim K. durch seine Tat nun nachhaltig in Frage gestellt zu haben scheint. Denn er kam aus der Mittelschicht und war eben kein Migrant, auch wenn er sich innerlich vielleicht als einer gefühlt hat. Ich denke, zu sagen, er sei verrückt gewesen, ist zu einfach. Und im Dritten Reich waren ja alle verrückt, die nicht mit ihrem Regime und seinen damaligen Medien einer Meinung waren. Vielleicht gibt es auch tiefer gehende Gründe, denn in was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich, in der solche Zwischenfälle allmählich zum gesellschaftlichen Alltag zu zählen scheinen (Erfurt, Emsdetten, Winnenden...)

Die Loveparade hatte damals versucht, "Liebe" als einen demokratischen politischen Wert in unserer Gesellschaft zu propagieren. Diese politische Demonstration wurde durch die mangelnde Erteilung einer Genehmigung und ihre erfolgreiche Kommerzialisierung, die ihr Ende mit bewirkt hat, beendet bzw. verboten.

Liebe sollte aber vielleicht in einer zunehmend kybernetisierten Gesellschaft neu erlernt werden. Vielleicht könnte man auch in Schulen und auch an der Universität ein neues Fach einführen, das wir "Liebe" nennen können. Durch so etwas ließen sich möglicherweise zukünftig Zwischenfälle wie denen in Winnenden vermeiden. Und ich darf darauf hinweisen, dass es in der Liebe und den Spielen, die sie ermöglicht, nicht nur Gewinner gibt, sondern auch Verlierer. Jedoch weiß man auch, dass bei der Liebe, die einen, die heute Gewinner sind, morgen schon Verlierer sein können und auch genauso umgekehrt.

Ein Kampf beginnt mit der Ausweglosigkeit eines direkten und imaginären kontextualisierten Aktionsfelds und wird als solches durch zahlreiche Faktoren erst ermöglicht, die ihr Zustandekommen begünstigen. Die Situationen, die zum Kampf führen, sind gesellschaftskybernetisch betrachtet Regulative, die in Fällen von anhaltenden systemischen Fehlfunktionen und Missständen zur Rekonfiguration eines Systems animieren. In wie fern sich diese systemischen Kontexte im Virtuellen multiplizieren und verdichten, vermag man nur angesichts der Häufung realer sozialer Pannen zu beurteilen.

Bisweilen lohnt es sich um seine Liebe zu kämpfen. Bisweilen greift eine allgemeine Empathielosigkeit um sich. Liebe kann beleben aber auch ersticken. Liebe kann Hoffnung schenken aber auch Schrecken sähen. Liebe kann verändern. Liebe kann einen Sinn geben. Vielleicht können es zukünftig Menschen auch in Spielen lernen, einander im Sinne einer christlichen Nächstenliebe zu begegnen. Wo aber war diese Nächstenliebe und die Barmherzigkeit im Handeln von Tim K.? Muss sich dadurch die CSU besonders hervortun, Computerspiele zu verbieten?
Vielleicht kann man ja einen Sonderfond ins Leben rufen, um Spiele zu entwickeln, die einem Liebe vermitteln, die es einem ermöglichen, etwas neues kreatives gegen diese zerstörerische Gewalt zu setzen. Ein Verbot ist ein aggressiver Akt. Ein Gamefond zur Erstellung von Spielen, die es vereinsamten Jugendlichen ermöglichen werden, emotionale Krisenzeiten zu überdauern, und die Werte der Nächstenliebe zu lernen, wäre im Gegensatz zu einem Verbot äußerst progressiv.