Dienstag, 13. Oktober 2009

25. Iteration


Es gibt von Jean Baudrillard einen Text, der nach seinem Tod in einem von Jérôme Bindé herausgegebenen Sammelband, der 2007 erschienen ist, veröffentlicht wurde. Dieser Text trägt den Titel: "Vom Universellen zum Singulären: die Gewalt des Singulären". Darin widmet Baudrillard seine Aufmerksamkeit den vielschichtigen Umschichtungsprozessen, die die durch eine, wie er es nennt, "Technostruktur" hervorgebrachte Globalisierung begleiten und im Folge derer viele Opfer zu beklagen sein werden. Für ihn stellen die vernetzten Bildschirme eine vierte Dimension dar, die die dreidimensionale Kultur des Raumes und der Nationalstaaten, die Kultur des Realen und der Repräsentation begleiten und stellenweise unterlaufen.

Die virale "Gewalt der Netzwerke" und die "Gewalt der Konsense" untergraben dabei im Zuge einer auf Welt-Kontexte starrenden "kommunikativen Gewalt" mit all ihrer "Gewalt der Transparenz und der Unschädlichkeit" kettenreaktionsartig die nationalen Systeme einer Kultur der universellen Werte. Die Partikularisierung der in Informationscocoons lebenden Menschen, die vom Gestus der Freiheit geleitet immer wieder ihre eigenen vorgefassten Meinungen bestärken, replizieren (vgl. hierzu Infotopia von Cass R. Sunstein) und dennoch meinen gut informiert zu sein, versprüht hierbei den Duft der sanften Gewalt von Auslöschung - Jürgen Habermas würde sagen: den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" -, die die vierte Dimension unserer Kultur angesichts der durch sie ausgelösten zunehmenden Beschleunigung aufoktroiert und die sich nach einiger Zeit selbst ein Ende setzt. Nach der Monopolisierung der Macht in den Händen einer einzigen Supernation, die die Entwicklung der "Technostruktur" begünstigt hat, aber auch am Ende ohnmächtig motivierte, singularitätsähnliche Terror Attentate echohaft hervorrief, offenbart sich das symbolisches Ende dieses Systems in der fehlenden Rückkanalfähigkeit gegenüber den singulären Erscheinungen, die begünstigt durch die Emergenz der vierten Dimension möglicherweise auch in den kommenden Jahren verstärkt zu weiteren Terror Anschlägen führen werden. Die symbolische Vergeltung des Terrors kann durch die Selbsttötung der Attentäter nicht an den Attentätern selbst vollzogen werden und wurde im Fall von 911 nur durch das Infragestellen von nationalen Grenzen anderer Staaten und auch das Infragestellen von Menschenrechten in äußerst fragwürdiger Form realisiert. Dies nagt stark an der Legitimationsgrundlage der Verursacher und der diese Maßnahmen präventiv augmentierenden Akteurnationen.



Mit den World Trade Towers stürzten nicht nur eine Reihe von Gebäuden sondern auch Symbole einer Ideologie ein. Diese Ideologie basierte auf rücksichtslosem Gewinnmaximierungsstreben und war ihrem Wesen nach unmenschlich. Die Antwort darauf waren ein "terroristischer Situationstransfer." Oder wie Baudrillard es ausdrückt: "Terror gegen den Terror: der Terrorismus gegen den Terror des Systems."

Baudrillard schreibt: "Heute dient jede Form der traditionellen Gewalt der Regeneration des Systems, vorausgesetzt, sie hat einen Sinn. Die einzige wirkliche Bedrohung des Systems liegt in der symbolischen Gewalt, die keinen Sinn hat und die keinerlei ideologische Alternative in sich trägt." Das, was Sarrazin als "herauswachsen" bezeichnet, ist meiner Meinung nach vor dem Hintergund eines äußerst subtilen Common Sense jenseits der Sprachfähigkeit - einer Ebene, auf der vor allem nach humanistischem Vorbild alle Menschen gleich sind - symbolischer Sprengstoff, aus dem sozialer werden kann.




Gebirt 911 den Tod einer besonderen Form der auf Ausbeutung abzielenden Kultur, der die Finanzkrise folgte und damit ein Quasi-Zusammensturz der Weltwirtschaft, kaschierte sie dennoch die Enron Pleite und möglicherweise auch die etwas unwahrscheinlichere noch bevorstehende von Monsanto. Ein vergleichbares 911 haben wir in Deutschland noch nicht erlebt. Aber vielleicht begünstigen derartig laxe Aussagen Sarrazins die Emergenz einer solchen Singularität. Die symbolische Entmachtung Sarrazins ist auf dieser Betrachtungsebene nur konsequent, um für alle Beteiligten weiteres Leid abzuwenden. Dass dennoch etwas geschehen sollte, ist unumstritten. Die Frage ist nur, in wie fern die Tage Deutschlands auch von Fragen der Technologie Entwicklung abhängen und in wie fern durch entsprechende Ausbildungsangebote Alternativen geschaffen werden können. Wahrscheinlich sind durch ziemlich dubiose nicht unumstrittene Finanzkrisenbekämpfungsmaßnahmen wie die Abwrackprämie die Mittel für Investitionen in eine mediengestützte Ausbildungsinfrastruktur auf neusten technischen Stand bereits von der SPD während ihrer letzten Legislaturperiode ausgegeben worden. Und möglicherweise rächt sich das nun auch wieder an der SPD, der Sarrazin immer noch angehört, die ihn nach wie vor noch nicht ausgeschlossen hat.




Und selbst, wenn die Masse der Bevölkerung seinen blinden und ungeschickten Tatsachenauflistungen heute, da die Wahl verloren ist, befürwortend begegnen sollte, könnte die Scham, die ich für seine Inkompetenz verspüre, selbst durch seinen Rücktritt nicht rückwirkend in Stolz verwandelt werden. Vielleicht muss man sagen: ich schäme mich, Deutscher zu sein, solange Leute wie Sarrazin öffentliche Ämter innehaben, die nichts mit der Pflege von Stammtischen zu tun haben und die mit ihren singulären Ausbrüchen unser ganzes System zu gefährden drohen. Dennoch ist es sehr zu begrüßen, dass man in Deutschland im Rahmen einer äußerst ausdifferenzierten Streitkultur seiner Meinung Luft machen und auf Misstände hinweisen kann. Jedoch behebt das symbolische Opfer Sarrazins nicht das Problem. Es bleibt also zu hoffen, dass sein Opfer eine Diskussion in Gang bringen wird, an deren Ende für alle Beteiligten echte Lösungsansätze zu erkennen sein werden.